Interview für das COMIC!-Jahrbuch 2015
mit Burkhard Ihme im Sept 2014
COMIC!: Du bist in den 80er Jahren durch deine Karikaturen für die taz bekannt geworden. Waren Karikaturen immer die erste Wahl deiner künstlerischen Mittel oder hast du dich als Comiczeichner gesehen?
Harald Juch: Ich habe immer beides gleich gerne gezeichnet, schon als Kind.
Doch nach dem Studium bin ich erst mal bei Werbe-Cartoons gelandet, nach einiger Zeit kamen auch Zeitungskarikaturen dazu. Egal ob bei kommerziellen Arbeiten oder unentgeltlichen Zeichnungen in politischen Publikationen, für eine Karikatur war immer Platz, für einen Comic fast nie. So sah es dann auch bei meinem Antritt als Karikaturist in der taz aus, der damals völlig anderen Tageszeitung mit Einheitslohn und ohne Chef.
COMIC!: Du hast 1998 für die Anthologie „Trau keinem über 30 – die 68er!“ dein Leben in einem vierseitigen Comic nacherzählt, den wir hier verkleinert abdrucken und der Stoff für einige Fragen bietet. Demnach hast du nach einer Lehre als Retuscheur Kunst studiert.
Harald Juch: Ja, das war an der Gesamthochschule Essen, Fachrichtung Kunst und Design, ehemals Folkwang Schule. Im Wesentlichen habe ich dieser Schule kontinuierliches Akt- und Porträtzeichnen zu verdanken, mit dem Medium Comic hatte sich aber kein einziger der Professoren/Professorinnen jemals befasst. Bei der Präsentation meiner Abschlussarbeit stand ein Dutzend von ihnen eine halbe Stunde lang vor meinen Comicseiten, die meterhoch vergrößert an der Wand hingen, ohne auf den Text zu achten. Erst nach Vergabe der Zensur, beim Abschied, empörte sich einer über den Inhalt einer Sprechblase.
COMIC!: War Kunsterziehung je eine Option für dich?
Harald Juch: Nein, auf keinen Fall. Meine beiden Eltern waren Kunsterzieher, die neben ihrem Schuldienst auch stets eigene Bilder malten, ausstellten und verkauften, aber mit dem Erfolg ihrer Kunst nie zufrieden waren. Oft hörte ich sie miteinander reden, was sie alles noch malen würden, wenn sie sich nur auf ihre Malerei konzentrieren könnten. Was lag näher, als auf keinen Fall Kunst Richtung Lehramt zu studieren.
COMIC!: Was waren deine künstlerischen Einflüsse? In einem der Bilder meine ich Heinz Edelmann herauslesen zu können…
Harald Juch: Nach dem künstlerischen Einfluss meiner Eltern habe ich als Jugendlicher natürlich alle Varianten der damaligen Popart in mich aufgesogen.
Die ganz konkrete Begeisterung für die politische Karikatur bekam ich durch Ron Cobb, der damals in US Underground-Magazinen nicht nur gegen den Vietnamkrieg zeichnete, sondern auch bereits ökologische Themen behandelte. Was den Comic betrifft, so hat mich Robert Crumb am meisten begeistert. Allerdings nur wegen seiner Geschichten, nicht wegen seines Zeichenstils. Stilistisch hatte ich keine eindeutigen Vorbilder.
COMIC!: Wie sah das bei der taz praktisch aus? Du hattest eine Festanstellung. Hattest du auch einen festen Platz für deine Karikaturen? Und wurden die Themen in der Mitarbeiterkonferenz bestimmt oder hattest du freie Hand?
Harald Juch: Ich war von 1980 bis 84 festangestellter Karikaturist bei der taz, dem damals frisch gegründeten, größten Alternativprojekt im Land. Anfangs hörte ich mir jeden Morgen die Redaktionskonferenz an, machte dabei eine oder auch mehrere Ideenskizzen und ging damit bei den Redakteur(inn)en hausieren, ob mir nicht eine(r) von ihnen ein paar Zeilen Platz für meine Zeichnung abgeben könnte. Je nachdem, wie schnell ich ein OK bekam, hatte ich dann noch 4 oder auch nur noch 3 Stunden Zeit, die Karikatur ins Reine zu zeichnen und mit hängender Zunge auf den letzten Drücker abzugeben. So suchte ich nach einiger Zeit immer gezielter nach Themen, die ich schon am Nachmittag oder Abend vor der Abgabe beginnen konnte, um mehr Zeit für meine Zeichnung zu haben.
Unvergesslich dazu ist mir die mitternächtliche Radionachricht vom Attentat auf den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan. Sarkastisch dachte ich mir: „Ein Glück, dass das nicht kurz vor Redaktionsschluss passiert ist…“ und griff zum Zeichenstift, statt ins Bett zu gehen. Am nächsten Morgen konnte ich gleich zu Beginn der Redaktionskonferenz die fertige Karikatur präsentieren. Mein Werk wurde mit ausreichend Platz auf der Titelseite honoriert.

Rückblickend wäre es wohl effektiver gewesen, wenn ich einen festen Platz für die Karikaturen gehabt hätte, doch was war damals schon fest in der taz? Was die Themenwahl meiner Karikaturen angeht, so war sie wirklich völlig frei. Allerdings musste ich jede Karikatur, in der Sexualität thematisiert wurde, der taz-Frauenbeauftragten vorlegen. Was nicht heißt, dass alle Redakteurinnen argwöhnisch meine Karikaturen beobachteten, aber einige wenige umso mehr.
COMIC!: Blieb neben der Arbeit für die taz Zeit für freie Arbeiten oder hattest du bezahlte Nebentätigkeiten? Wie sah dein künstlerisches und politisches Umfeld aus? Musste man damals unbedingt in Kreuzberg wohnen?
Harald Juch: Ja, ich hatte Zeit, um neben der Arbeit für die taz noch einiges andere auf die Beine zu stellen. Unter anderem gab ich mit meinen Zeichnerkollegen Detlef Surrey, Hansi Kiefersauer, Peter Petri und Peter Fuchs jährlich den Kopf-Hoch-Kalender raus. Das waren 52 Karikaturen-Postkarten zum Kalender gebunden, die wir im Selbstverlag drucken ließen und verkauften. Ich erinnere mich noch genau an jenen ungewöhnlich kalten Dezemberabend in meinem ersten Berliner Jahr, als wir nach mehrstündigem Zusammenstapeln gedruckter Kalenderseiten müde auf die Straße traten und uns völlig unerwartet mehrere Hundert junge Leute im Eilschritt entgegenkamen, viele von ihnen vermummt. Sie riefen uns zu, mit zu einer spontanen Demonstration zu kommen, weil die Polizei am frühen Abend ein besetztes Haus geräumt hatte. Klar kamen wir mit und konnten es nicht fassen, dass es trotz der Kälte immer mehr Demonstranten wurden, erstmals seit Jahren Polizisten wieder mit Steinen beworfen und Supermärkte überhaupt zum ersten Mal geplündert wurden.
Natürlich hatte ich am nächsten Morgen auf der taz-Redaktionskonferenz auch die passende Karikatur dazu für die Titelseite fertig. Einige der sonst immer so vorausschauenden taz-Redakteure waren an diesem Morgen sichtlich verstört, dass sie völlig überrascht wurden von einer neuen, jungen, politischen Bewegung. In der ersten Hälfte von 1981 sah es eine Weile so aus, als wenn sich in diesem Jahr ähnlich viel politisch bewegen würde wie 1968. Einige tausend junge Aktivisten hofften gar auf mehr. Die Zahl der besetzten Häuser stieg in Berlin innerhalb weniger Monate von 18 auf 165. In vielen anderen Städten tat sich ähnliches. Begeistert zeichnete ich für eine taz-Sonderseite eine illustrierte Landkarte mit allen besetzten Häusern in der Bundesrepublik und zog dann auch in ein besetztes Haus, allerdings in Schöneberg, nicht in Kreuzberg. Ab dem 2. Jahr taz gelang es mir auch hin und wieder, tagespolitische Kurz-Comics zu zeichnen. Doch das blieben schweißtreibende Ausnahmen mit vielen unbezahlten Überstunden.
Zusammen mit der Kopf-Hoch-Zeichner-Crew gab ich ein Comic- und Cartoonbuch zur Hausbesetzer-Bewegung heraus, das sich sogar 10 000 Mal verkaufte. Doch die Jugendrevolte von 81 stieß bald an ihre Grenzen. Nach etlichen Massendemonstrationen und Straßenschlachten hatten sich die Politiker ebenso routiniert darauf eingestellt wie die Polizei auch. Neben meinen Karikaturen für die taz entwarf und malte ich etliche Wandbilder an besetzten Häusern, einige vier Stockwerke hoch. Außerdem waren meine politischen Karikaturen auf vielen Demonstrations-Transparenten, Plakaten und Flugblättern zu sehen.
COMIC!: Wie endete deine Tätigkeit bei der taz?
Harald Juch: Auf einem bundesweitem taz-Plenum Anfang 84 beschloss man, 18 Arbeitsstellen zu streichen, da kein Geld mehr dafür da war. Jeder hatte die Möglichkeit, eine flammende Rede über die Wichtigkeit gerade seines Arbeitsplatzes zu halten. Ich als Einzelkämpfer für das gezeichnete Bild hatte von vornherein keine Chance. So zeichnete ich noch ein letztes Vierteljahr möglichst viele Karikaturen in der taz, nervte dabei möglichst viele Redakteure mit meinen Platzforderungen für die Bilder und genoss dann das damals noch üppigere Arbeitslosengeld ein geschlagenes Jahr lang. Endlich hatte ich genug Zeit und Geld, um ganz in Ruhe mein erstes eigenes Comicbuch zeichnen!
COMIC!: Worum ging es in dem Comicbuch und bei welchem Verlag wurde es veröffentlicht?

Harald Juch: Es waren 120 Seiten dichter, semirealistischer Schwarz-Weiß-Comics mit sieben Geschichten. Es ging um die neusten Modehypes der mittleren 80er Jahre, einem weißen Hai, der bis Kreuzberg schwamm, einen sprechenden Pflasterstein, der einen Autonomen auf einer Friedensdemo tröstet und vieles mehr. Das Buch hieß „Wenn alles zu spät ist…“, erschien in einer Auflage von 3 000 Stück beim „Semmel Verlach“, an eine zweite Auflage war nicht zu denken und so blieb es bei einem ersten selbst geschriebenen Comicbuch.
COMIC!: Und dann?
Harald Juch: Klar war ich sehr enttäuscht, dass mein Comicbuch sich nicht besser verkaufte. Ich zeichnete wieder als Freiberuflicher für diverse Zeitschriften und einige Werbeagenturen Cartoons, aber da kam auch schon eine drastische Wende. Der deutsche Entwicklungsdienst suchte für Nicaragua einen Medienexperten mit gestalterischen und zeichnerischen Fähigkeiten. Ich bewarb mich und bekam 86 die Stelle.
COMIC!: Vielen Lesern muss man wohl erst mal erklären, was Nicaragua überhaupt ist.
Harald Juch: Nicaragua ist ein kleines mittelamerikanisches Land, in dem 1979 ein Volksaufstand eine Jahrzehnte lange Diktatur hinweggefegt hatte. Während die Linke weltweit diese Revolution unterstützte, fürchtete die Rechte, dass sich nach Kuba der Kommunismus nun erstmals auch auf amerikanischem Festland, in Nicaragua, etablieren würde. Nach einem Regierungswechsel in den USA finanzierte der frisch gewählte Republikaner Roland Reagan eine rechte Guerilla, die Teile des kleinen Landes in einen jahrelangen Bürgerkrieg verwickelten, ähnlich wie es heute Putin mit der Ukraine macht.

Anlass für meine recht ungewöhnliche Entwicklungshelferstelle war eine große Alphabetisierungskampagne in Nicaragua, bei der die Mehrheit der Einwohner erstmals lesen und schreiben lernte. Nun sollte ich diese unterstützen mit der Anfertigung von Comics und Illustrationen für entwicklungspolitische Themen auf Plakaten, Flugblättern und in den dortigen Tageszeitungen. Außerdem sollte ich bei dieser Arbeit auch einheimische Fachkräfte ausbilden.
COMIC!: Und wie viel davon konntest du in den drei Jahren in Nicaragua realisieren?
Harald Juch: Eigentlich alles, sowohl die Publikationen als auch den Unterricht, allerdings nur in einem recht bescheidenem Ausmaß. Alles dauerte dort viel, viel länger, als ich es schon befürchtet hatte. Offiziell wurde mein Arbeitsplatz beim Landwirtschaftsministerium eingerichtet, weil ich dort etliche Comichefte zu Ernährungsfragen und Selbstanbau zeichnete. Doch alle in diesem kleinen Land, damals gerade 3,5 Millionen Einwohner groß, waren überfordert. Der von den USA verhängte Wirtschaftsboykott und der von ihr finanzierte Bürgerkrieg ließen den Alltag nie zur Ruhe kommen. Dazu kam auch noch eine Inflation von zwischenzeitlich 20 000 %.
Ich hatte erwartet, dass mir irgendjemand im Landwirtschaftsministerium die Texte für die gewünschten Comics schreibt. Nein, dafür gab es niemand. Die wenigen Intellektuellen dort, die dafür in Frage kamen, saßen an führenden Stellen und hatten für meine Comics keine Zeit. Letztendlich musste ich alles selbst machen. Von der Konstruktionszeichnung eines Zeichentisches für den Schreiner, über das Schreiben der Comictexte bis hin zum Auftreiben von internationalen Spendengeldern für den Druck der Hefte. Auch eine Spanischlehrerin und Übersetzerin der Comictexte musste ich auf eigene Rechnung anheuern, doch das war mir die Sache wert.
Wie schön war dann das Gefühl, als ich zum ersten Mal in einem Lastwagen neben dem Fahrer saß, um die 40 000 frisch gedruckten Comichefte zur Tageszeitung „Barricada“ zu fahren, wo sie als Beilage eingelegt werden sollten. Sorgenvoll schaute ich immer wieder zum Himmel, denn es war gerade Regenzeit und ich hatte nur einen offenen Lastwagen ohne Plane auftreiben können. In der Regel regnete es erst am späten Nachmittag, aber an diesem Tag sah der Himmel schon mittags recht düster aus. Irgendwann verlor ich die Nerven und schrie den Fahrer an, dass er sofort unter das Dach einer Tankstelle fahren solle. Er lachte nur über meine Ängstlichkeit, doch da setzte bereits ein Platzregen ein, als der Anhänger des LKW unter das Dach rollte. Es war das einzige Dach weit und breit, unter das der Lastwagen passte.

Ausschnitte aus einem Comicheft zum Anlegen von Gemüsegärten
COMIC!: Laut deiner Comicbiographie zeichnetest du nicht nur „Comics, Karikaturen und Poster für entwicklungspolitische Projekte“, sondern auch für „die sandinistische Presse und Guerillabewegung in El Salvador“. Das war wohl weit über den Rahmen eines deutschen Entwicklungshilfeprojektes hinaus.
Harald Juch: Ja, aber hätte ich nur Entwicklungsdienst nach Vorschrift gemacht, wäre ich sofort zurück nach Deutschland geflogen. Ich wollte etwas tun für diese Revolution und zeichne nun mal gerne viel und leidenschaftlich. Natürlich konnte ich nicht nein sagen, als ich in Nicaragua von linken Flüchtlingen aus El Salvador um politische Comics gebeten wurde. In El Salvador, dem Nachbarland von Nicaragua, kämpfte genauso wie vorher in Nicaragua eine linke Guerilla gegen eine rechte Diktatur, die von der US-amerikanischen Regierung massiv mit Waffen und Geld unterstützt wurde. Meine Karikaturen und Comics für die Guerilla in El Salvador habe ich allerdings nur unter Pseudonym in einem anderen Stil gezeichnet.
Aber in der nicaraguanischen Presse konnte mich kein Pseudonym tarnen. Dazu hatte ich dort zu oft veröffentlicht, wenn sonst gerade nichts lief an meinem offiziellen Arbeitsplatz. Irgendwann fiel dies auch in der Zentrale des Entwicklungsdienstes in Deutschland auf und nach zweidreiviertel Jahren bekam ich keine Verlängerung meines Vertrages mehr. So arbeitete ich die letzten drei Monate ehrenamtlich und lebte vom Ersparten.
Aber auch unabhängig von der Politik hat es mir irrsinnigen Spaß gemacht, gelegentlich zu einem Urwald zu fahren, um diese ganze Fülle der Natur aufs Papier zu bannen. Ich brauchte lange, um mich nicht mehr an einzelnen Pflanzen zu verzetteln, sondern auch das Ganze zu zeigen. Ebenso war es beim Porträtieren der Nicaraguaner. Erst nachdem ich einige Dutzend von ihnen gezeichnet hatte, bekam ich diese Mestizen-Gesichtszüge hin.
COMIC!: Du bist mit Frau und Kind nach Nicaragua gezogen.
Harald Juch: Unser Sohn war ein Jahr alt, als wir nach Amerika flogen. Er hat dort in einer Idylle unter Palmen und Mangobäumen laufen und sprechen gelernt. Der Entwicklungsdienst zahlte für mit ausreisende/n Ehepartner/in 50 % und pro Kind 25 % mehr. So konnten wir dort sehr gut leben. Meine Frau hat in Nicaragua viel fotografiert, u.a. für die taz und Medico International. Später gab sie auch Deutschunterricht.
COMIC!: Dietmar Schönherr, der sich sehr in Nicaragua engagiert hatte, entging bei einem Überfall der rechten Guerilla „Contra“ nur knapp dem Tod. Bist du jemals in Gefahr geraten?
Harald Juch: Nein, ich kam später als Schönherr nach Nicaragua. Zu dem Zeitpunkt konnte die „Contra“ mit ihren Terrorangriffen in keinem dichter besiedelten Gebiet mehr agieren, auch keine Kleinstadt mehr angreifen – kein Vergleich zu den heutigen Bürgerkriegen in Syrien oder Irak. Indirekt habe ich aber auch die Bürgerkriegs-Atmosphäre mitbekommen, schließlich kostete der Krieg in den 10 Jahren bis zum Ende 29 000 Nicaraguaner das Leben. Trotzdem erschien mir die allgemeine Alltagsstimmung in Nicaragua lebensbejahender, fröhlicher als bei uns. Ich habe viel von den Nicaraguanern gelernt. Erstmals habe ich nach all den Jahren Fundamentalopposition in Deutschland mit einer Regierung mitgefühlt und -gelitten.
COMIC!: Zurück in Berlin Ende 1998 hatte sich die politische Landschaft verändert.
Harald Juch: Ja, die Maueröffnung sah ich noch im nicaraguanischen Fernsehen. Drei Wochen später flog ich zum ersten Mal nach 3 Jahren zurück nach Berlin. Ich war enttäuscht, dass ich die Maueröffnung verpasst hatte. Schließlich gehörte ich zu denen, die mal genau auf der Grenze zwischen Ost und West am Checkpoint Charly gestanden und gegen alle Atomraketen in Ost und West demonstriert hatten. Eine Stunde hatten Volks- und Bundespolizei damals gebraucht, um sich zu einigen, wie sie uns verhaften und wer die von mir gemalten Transparente beschlagnahmt…
Die ersten Monate nach meiner Rückkehr liefen ganz gut, Zeichnung und Anspruch stimmten noch überein. Für die Grünen machte ich einige Poster und auch in der taz meldete ich mich gelegentlich mit Karikaturen zurück. Doch dann flogen die Grünen bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen für eine Legislaturperiode aus dem Bundestag, ich hatte damit einen gerade erst wiedergewonnen Kunden verloren. Auch konnte ich nicht mehr zurück in „mein“ einst besetztes, mittlerweile legalisiertes Haus ziehen, da ich nun mit Frau und Kind mehr Platz brauchte. Also musste ich ein x-faches an Miete zahlen. Meine Frau fand auch nicht sofort eine Stelle in ihrem ursprünglichen Beruf, deshalb musste ich auf der Stelle das Mehrfache von dem verdienen, was ich etwa vorher in der taz bekam. Das ging nur über möglichst kommerzielle Aufträge.
COMIC!: Woher kamen die Aufträge? Hast du die Buckeltour durch die Agenturen gemacht?
Harald Juch: Ja, die Tour durch die Agenturen musste ich auch machen, aber erst später. Zunächst hatte ich wieder Glück – Gerd Hahn, damals größter Trickfilm-Produzent Deutschlands, den ich flüchtig kannte, bot mir ein paar Auftrags-Zeichenjobs mit der damals in Deutschland populärsten Comicfigur Werner an. Er war zu der Zeit Agent von Brösel, dem Werner-Erfinder, den ich auch flüchtig kannte.

Von da an zeichnete ich die nächsten sieben Jahre den Wernerkalender mit jeweils 13 farbigen Wimmelbildern. Für ca. die Hälfte der Motive gab es eine Grobskizze von Brösel, sonst nur seine Bildidee, manchmal konnte ich auch eigene Ideen und Witze beisteuern, je nachdem, wie viel Brösel sonst um die Ohren hatte. Mal musste er sich zu viel um einen neuen Werner-Film oder -Comicbuch kümmern, mal war er auch ganz allgemein vom Werner-Rummel geschafft. Manchmal haben wir auch wirklich zusammen gezeichnet und etwa für den Sternzeichen-Wernerkalender neue Sternzeichen erfunden, wie das große Bügelflaschengebinde.
COMIC!: Warst du der erste „Werner“- Ghost-Zeichner?
Harald Juch: Nein, kurz vor mir hatte der kanadische Zeichner Andrew Knight, der auch beim ersten Werner-Film maßgeblich mitgewirkt hatte, den kompletten Werner-Band „Besser ist das“ nach Brösels Ideen und Grobskizzen gezeichnet. Ich war aber der erste Ghost-Zeichner, der über mehrere Jahre Werner gezeichnet hat. Außer dem Wernerkalender habe ich noch etliche Merchandising-Motive und auch zwei Bücher gezeichnet. Zuerst das Comicbuch „Knorre und Blaschke – rein zu doll“, in dem Brösel mit Krischan neue Comicfiguren ohne Werner entwickelt hatte, dann endlich einen richtigen Werner-Comicband – „Wer bremst hat Angst“.
COMIC!: Wie lief da die Zusammenarbeit? Wurden dir Scribbles oder regelrechte Drehbücher vorgelegt? Warst du fest angestellt oder bekamst du einen Seitenpreis?
Harald Juch: Bei beiden Büchern bekam ich nur die getippte Geschichte mit ausformulierten Sprechblasen-Dialogen. Ich teilte dann den Text in Panels und Comicseiten auf, machte erste Scribbles und legte sie Brösel vor. Während das beim ersten Comicbuch „Knorre und Blaschke“ recht reibungslos lief, da ich den größten Teil alleine in Berlin zeichnete, so uferte es beim Wernerbuch aus. Eigentlich hatte Brösel das neue Werner- Buch alleine angefangen, doch merkte er bald, dass er zum anvisierten Veröffentlichungstermin, dem Beginn der Frankfurter Buchmesse, alleine nicht fertig werden würde. So zog er mich hinzu.
Wir arbeiteten zusammen in Kiel in den Räumen des kurz vorher Pleite gegangenen „Semmel-Verlach“, die nun Brösels eigener Achterbahn Verlag gekauft hatte. Statt gelegentlicher Kommunikation zwischen Kiel und Berlin per Telefon und Fax, sah Brösel jetzt jeden Tag meine neuesten Entwürfe und hatte fast bei jeder Seite spontan neue Einfälle, wie die frisch gezeichneten Gegenstände und Menschen noch schneller rasen, fliegen oder fallen könnten. Ich machte dann Korrekturen, oft mehrmals. Brösel wollte meinen etwas detaillierteren, aufwändigeren Zeichenstil, den ich beim Werner-Kalender verwendete, nun auch im Werner-Comicbuch haben. Er hatte unterschätzt, wie viel mehr Arbeit das bedeutete. Wegen der vielen Experimente und Korrekturen verloren wir immer mehr Zeit. Deshalb mussten gegen Ende noch einige weitere Zeichner mithelfen und ich bekam ausnahmsweise einen Stundenlohn, statt der sonst üblichen Pauschalhonorare.
COMIC!: War das deine letzte Zusammenarbeit mit Brösel?
Harald Juch: Nein, eineinhalb Werner-Kalender zeichnete ich noch, aber als ich für das nächste Wernerbuch bereits etliche Comicseiten fertig hatte und dasselbe Honorar verlangte wie beim vorherigen, bekam ich das Fax mit meiner Forderung umgehend zurück. Mit dickem Filzer war mein Brief durchgestrichen, „Alle Arbeit einstellen“ stand noch darunter, sonst nichts. Jörg Reimann wurde mein Nachfolger.
COMIC!: Neben deiner Arbeit für Brösel hast du Graffitis gemalt. Hast du damit an deine Wandbilder während der Hausbesetzerzeit angeknüpft?
Harald Juch: Nur insofern, als ich durch meine vorherigen Erfahrungen keine Angst vor der Gestaltung großer Flächen habe. Es fing damit an, dass die Supermarkt-Kette Kaiser’s lachende Kaffee-Kannen-Maskottchen anfertigen ließ. Ich entwarf diese und ein paar junge Sprayer aus der Graffiti-Szene führten meine Entwürfe aus.

Insgesamt haben wir so ca. 40 Wandbilder für Kaiser’s und auch für einige andere Firmen in Sprühdosen-Technik hergestellt. Ich selbst hätte gerne auch dabei mitgesprüht, denn im Gegensatz zum ewigen krummen Rücken am Zeichentisch ist das Malen mit der Sprühdose eine Maltechnik, bei der man sich richtig bewegt, fast schon eine Mischung aus Sport und Kunst. Auch die Geschwindigkeit, mit der ein Bild per Sprühdose entsteht, ist atemberaubend. Ich kam leider nur etwa ein Dutzend Mal dazu. Für die eigenen Aufträge reichte meine bis dahin erworbene Sprühfähigkeit nicht. Noch lieber hätte ich ein Wandbild mit eigenen Inhalten entworfen, doch dazu kam es leider nie. Eine Weile zeichnete ich auch für das monatlich erscheinende Kundenmagazin von Kaiser’s jeweils eine Comicseite mit dem Kaffee-Kannen-Maskottchen, bis dieses Magazin eingestellt wurde.
COMIC!: Du hast dann zwei Jahre lang für Hahn-Film in Berlin gearbeitet. Hast du dich dabei in klassische Animation eingefuchst oder was waren deine Aufgabengebiete?
Harald Juch: Ich hatte bereits im Laufe der 90er einige Male von zu Hause aus für Hahn-Film Landschaften und Charaktere gezeichnet. Doch das tägliche Arbeiten im Studio mit vielen anderen in einem Raum ist eine ganz andere Dimension. Als erstes musste ich mit Entsetzen feststellen, dass Hahn gerade die gesamte Animation und auch viele andere Zeichenarbeit nach Vietnam und auf die Philippinen verlagerte. Es wurden also nur noch die Storyboards, Charaktere und Hintergründe in Deutschland gezeichnet, der größte Teil der Arbeit ging in die Billiglohnländer. Ein unumkehrbarer Trend, der Anfang der 90er nach und nach die ganze Trickfilmbranche erfasste. Nur hatte ich das als Neuling auf dem Gebiet erst im Studio so richtig mitbekommen. Im ersten Jahr zeichnete ich für die Trickfilmserie von Grimms Märchen viele Schlösser, Wälder und Städte, was mir sehr großen Spaß machte. Danach bekam ich aus einem philippinischen Zeichenstudio einen meterhohen Stoß von neuen Detailansichten der in Berlin entworfenen Prototypen von Räumlichkeiten. Mit einem elektrischen Radiergummi saß ich vor dem Stapel und musste bei jeder Zeichnung entscheiden, ob sie mit 10 – 15 Minuten Korrektur noch zu retten war oder völlig neu gezeichnet werden musste. Ich bekam damals 6 000 DM im Monat, ein philippinischer Zeichner umgerechnet 150 DM.

COMIC!: War die kollektive Arbeit wie an einem Film etwas Neues für dich?
Harald Juch: Ja, trotz meiner unterschiedlichen Erfahrungen von kollektiver Arbeit, von taz bis Werner, war die Arbeit im Trickfilm etwas Neues für mich. Anfangs habe ich mich als recht kommunikativer Mensch sehr gefreut, soviel neue Kolleginnen und Kollegen kennen zu lernen. Gebannt lauschte ich einigen mit Disney-Studioerfahrungen. Doch immer wenn ein Filmprojekt zu Ende ging, kippte die nette, gesellige Stimmung um. Nur ca. 5% der Zeichner hatten Festanstellungen, alle anderen nur Zeitverträge wie ich auch. Zum Schluss wurde um jede Woche gekämpft, die man länger im Studio arbeiten konnte. Viele Zeichner belauerten andere und wollten beweisen, dass ihre Arbeit besser sei als die, die einen Zeichentisch weiter lag. Auch die Qualitäts-Hierarchie, die sich in jedem Filmprojekt neu aufbaut und beim nächsten Projekt vielleicht schon wieder ganz anders ist, ist nichts für zart besaitete Gemüter.
COMIC!: Du hast deine Arbeitsweise vollständig aufs Zeichnen am Computer umgestellt. Hat das deinen Stil verändert?
Harald Juch: Es gibt immer wieder Leute, die mich nur von meinen taz-Karikaturen her kennen und dann erstaunt sind, dass sie bei meinen aktuellen Illustrationen für die ???Kids doch noch meinen Zeichenstrich wiedererkennen. Klar ist dort alles kindgerechter, freundlicher, doch spätestens bei den jeweiligen Bösewichten im Buch kommt das „Ach ja“.
COMIC!: Du illustrierst wie einige andere Kollegen „Die drei ??? Kids“ im Kosmos Verlag.
Harald Juch: Wir sind zur Zeit drei Zeichner bei den ???Kids-Büchern, Kim Schmidt, Jan Saße, und ich. Ich illustriere gerade „meinen“ 30. Band mit jeweils einem Titelbild und 30 Innenillustrationen. Kim Schmidt hat noch ein paar Bände mehr hinter sich. Jetzt soll noch Sarah Burrini als vierte Zeichnerin dazu kommen.
„Die drei ???Kids“ ist eine neuere Sub-Reihe der klassischen „Die drei ???“. Es sind die gleichen Akteure und Schauplätze wie in der klassischen Buchreihe, doch sie ist für jüngere Leser. Erstmals sind hier auch die drei ??? auf Illustrationen im Comicstil zu sehen, während die Klassiker keine Illustrationen haben. Seit Ersterscheinen dieser Sub-Reihe im Jahr 2000 sind mittlerweile über 3 Millionen Bücher verkauft worden. Auch die Lizenzausgaben im Ausland werden immer mehr. Jetzt im Sommer 2014 brachte Kosmos das erste Comicbuch mit den ???Kids auf den Markt, das Kim Schmidt zeichnete, stolze 100 Seiten lang und farbig.
COMIC!: Zeichnet ihr auch für das neue ???Kids-Magazin, das jetzt seit September 2014 vierteljährlich rauskommt?
Harald Juch: Nein, die Comics für dieses Heft werden in einem Studio in Barcelona gezeichnet. Dieses Studio ist schon seit Jahren spezialisiert auf den deutschen Markt, aber die Honorare sind spanisch, das heißt kleiner.
COMIC!: Habt ihr keine Angst, dadurch früher oder später eure bisherigen Illustrationsaufträge für die ???Kids zu verlieren?
Harald Juch: Ach, die Globalisierung gibt es ja schon eine ganze Weile. Mal kann man seine Aufträge gegen Billiglohn-Studios verteidigen, mal nicht. In unserem konkreten Fall ist es noch zu früh, um eine Prognose abzugeben.

COMIC!: Machst du heute auch Auftragsarbeiten im weniger glatten Stil deiner ersten Berliner Jahre? Und gibt es das große, ganz persönliche Projekt, von dem dich die „Kommerz-Scheiße“ ständig abhält?
Harald Juch: Anfragen von neuen Kunden bekomme ich nur für meinen gefälligeren Stil. Das große, ganz persönliche Projekt, von dem ich ständig durch meine Aufträge abgehalten werde, habe ich zum Glück nicht. Da wäre ich ja verrückt geworden in all den Jahren. Aber es gibt etliche kleinere Projekte, alle wieder mit eigenen Inhalten, die mich zunehmend mehr drängen. Ich hoffe, wenigstens eins davon im Laufe des nächsten Jahres auf meiner Website vorstellen zu können.