Harald Juch

Ab 1950 Leben in Essen

1966 Ausbildung zum Tiefdruckretuscheur

1970 Studium der Visuellen Kommunikation an der Folkwang-Schule Essen

1976 freiberuflicher Grafiker und Karikaturist in Essen

1980 tagespolitischer Karikaturist bei der Tageszeitung „taz“ in Berlin

1986 Comiczeichner und Zeichenlehrer beim deutschen Entwicklungsdienst in Nicaragua, Mittelamerika

1990 Illustrator, Karikaturist und Comiczeichner für Werbung, Verlage, Wandbilder und Trickfilm in Berlin

Ausführlicheres im  folgenden Artikel von Andreas Austilat im Tagesspiegel, Berlin

Interview für das COMIC!-Jahrbuch 2015

mit Burkhard Ihme im Sept 2014

(Gekürzte Fassung. Das vollständige Interview gibt es hier.)

COMIC!: Du bist in den 80er Jahren durch deine Karikaturen für die taz bekannt geworden. Waren Karikaturen immer die erste Wahl deiner künstlerischen Mittel oder hast du dich als Comiczeichner gesehen?

Harald Juch: Ich habe immer beides gleich gerne gezeichnet.

Doch nach dem Studium bin ich erst mal bei Werbe-Cartoons gelandet, nach einiger Zeit kamen Zeitungs-Karikaturen dazu. Egal ob bei kommerziellen Arbeiten oder ehrenamtlichen Zeichnungen, für eine Karikatur war immer noch Platz, für einen Comic fast nie. So war es dann auch bei meinem Antritt als Karikaturist in der taz, der damals neuen, links-alternativen Tageszeitung mit Einheitslohn und ohne Chef.

COMIC!: Wie sah das bei der taz praktisch aus?

Harald Juch: Unvergesslich ist mir z. B. die mitternächtliche Radionachricht vom Attentat auf den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan. Sarkastisch dachte ich mir: „Ein Glück, dass das nicht kurz vor Redaktionsschluss passiert ist“ und griff zum Zeichenstift, statt ins Bett zu gehen. Mein Werk wurde mit ausreichend Platz auf der Titelseite honoriert.

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COMIC!: Wie endete deine Tätigkeit bei der taz?

Harald Juch: Auf einem bundesweitem taz-Plenum Anfang 84 beschloss man, 18 Arbeitsstellen zu streichen, da kein Geld mehr dafür da war. Ich als Einzelkämpfer für das gezeichnete Bild hatte von vornherein keine Chance.
Zum Trost hatte ich nun endlich mal genug Zeit und Dank Arbeitslosengeld eine Finanzierung für mein erstes eigenes Comicbuch.

COMIC!: Worum ging es in dem Comicbuch und bei welchem Verlag wurde es veröffentlicht?

Harald Juch: Es ging um die neuesten Modehypes der 80er Jahre, einen weißen Hai in Kreuzberg, einen sprechenden Pflasterstein und vieles mehr auf 120 Seiten. Das Buch hieß „Wenn alles zu spät ist“ und erschien in einer Auflage von 3 000 Stück beim „Semmel Verlach“. An eine zweite Auflage war leider nicht zu denken und so blieb es bei einem ersten selbst verfassten Comicbuch.

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COMIC!: Und dann?

Harald Juch: Klar war ich enttäuscht, dass mein Comicbuch sich nicht besser verkaufte. Ich zeichnete wieder als Freiberuflicher für diverse Zeitschriften und einige Werbeagenturen Cartoons, aber dann kam eine drastische Wende. Der deutsche Entwicklungsdienst suchte für Nicaragua einen „Medienexperten mit gestalterischen Fähigkeiten“. Ich bewarb mich und bekam 1986 die Stelle.

COMIC!: Vielen Lesern muss man wohl erst mal erklären, was Nicaragua überhaupt ist.

Harald Juch: Nicaragua ist ein kleines, mittelamerikanisches Land, in dem 1979 ein Volksaufstand eine Jahrzehnte lange Diktatur hinweggefegt hatte. Während die Linke weltweit diese Revolution unterstützte, fürchtete die Rechte, dass nach Kuba nun auch Nicaragua kommunistisch werden würde. Nach einem Regierungswechsel in den USA finanzierte der frisch gewählte republikanische Präsident Ronald Reagan eine rechts gerichtete Terrororganisation, die Teile des kleinen Landes in einen Bürgerkrieg verwickelte, ähnlich wie es heute Putin mit der Ukraine macht.

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Anlass für meine recht ungewöhnliche Entwicklungshelferstelle waren eine große Alphabetisierungskampagne, mit der die zu 70 % analphabetischen Einwohner lesen und schreiben lernen sollten, so wie andere Aufklärungskampagnen. Das sollte ich unterstützen mit der Anfertigung von Comics und Illustrationen für entwicklungspolitische Themen auf Plakaten, Flugblättern und in der dortigen Presse. Außerdem sollte ich dabei einheimische Fachkräfte ausbilden.

COMIC!: Und wie viel davon konntest du in den drei Jahren in Nicaragua realisieren.

Harald Juch: Eigentlich alles, sowohl die Publikationen, als auch den Unterricht, allerdings nur in einem recht bescheidenem Ausmaß. Offiziell wurde mein Arbeitsplatz beim Landwirtschaftsministerium eingerichtet, weil ich dort etliche Comichefte zu Ernährungsfragen und Selbstanbau von Obst und Gemüse zeichnete. Nicaragua war damals das drittärmste Land Amerikas. Ich musste alles selbst machen, vom Bau eines Zeichentisches, über das Schreiben der Comictexte bis hin zum Auftreiben von internationalen Spendengeldern für den Druck.

Doch wie schön war dann das Gefühl, als ich zum ersten Mal in einem Lastwagen neben dem Fahrer saß, um 40 000 frisch gedruckte Comichefte zur Tageszeitung „Barricada“ zu fahren, wo sie als Beilage eingelegt werden sollten. Allerdings war gerade Regenzeit und ich hatte nur einen offenen Lastwagen auftreiben können. Sorgenvoll schaute ich zum Himmel, doch der einheimische Fahrer lachte, da der Regen meist erst am Nachmittag kam. Als die Wolken immer dichter wurden, bestand ich darauf, unter das Dach einer Tankstelle zu fahren. Kaum waren wir darunter, setzte ein Platzregen ein. Uns schützte das einzige Dach weit und breit, unter das der Lastwagen passte.­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­

Ausschnitte aus einem Comicheft zum Anlegen von Gemüsegärten

Ausschnitte aus einem Comicheft zum Anlegen von Gemüsegärten

COMIC!: Zurück in Berlin Ende 1998 hatte sich die politische Landschaft verändert.

Harald Juch: Ja, die Maueröffnung sah ich noch im nicaraguanischen Fernsehen, drei Wochen später flog ich zum ersten Mal nach 3 Jahren zurück nach Deutschland. Leider konnte ich meine Arbeit mit eigenen Inhalten nicht fortsetzen. Ich war mittlerweile Vater geworden und mit Familie gab‘s nicht genug Wohnraum in „meinem“ einst besetzten und mittlerweile legalisierten Haus, in dem ich vor Nicaragua gewohnt hatte. Eine dreimal so hohe  Miete war nun fällig und so blieb mir nichts anderes übrig, als möglichst viele kommerzielle Aufträge zu suchen.

COMIC!: Woher kamen die Aufträge? Hast du die Buckeltour durch die Agenturen gemacht.

Harald Juch: Ja, die Tour machte ich auch. Aber zunächst hatte ich Glück und bekam Aufträge für die damals in Deutschland populärste Comicfigur „Werner“. 7 Jahre zeichnete ich den Werner-Kalender mit großen Wimmelbildern, außerdem noch zwei Comicbücher. Zuerst  „Knorre und Blaschke – rein zu doll“, in dem Brösel neue Figuren ohne Werner entwickelt hatte und einen Werner-Comicband – „Wer bremst hat Angst“.

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COMIC!: Wie lief da die Zusammenarbeit? Wurden dir Scribbles oder regelrechte Drehbücher vorgelegt? Warst du fest angestellt oder bekamst du einen Seitenpreis?

Harald Juch: Bei beiden Büchern bekam ich nur die Geschichten. Ich teilte dann den Text in Comicseiten auf, machte Entwürfe und legte sie Brösel vor. Lief das beim ersten Buch reibungslos, da ich den größten Teil alleine in Berlin zeichnete, so uferte es beim Werner-Buch aus.

Wir arbeiteten zusammen bei ihm in Kiel. Statt gelegentlicher Kommunikation per Telefon und Fax, sah Brösel jetzt jeden Tag meine neusten Entwürfe und war oft enttäuscht. Meistens musste dies oder jenes, was ich gezeichnet hatte, noch viel drastischer rasen, brennen oder splittern. Wegen der vielen Experimente und Korrekturen bekam ich ausnahmsweise einen Stundenlohn, statt des sonst üblichen Pauschalhonorars.

COMIC!: Neben deiner Arbeit für Brösel hast du Graffitis gemalt. Hast du damit an deine Wandbilder während der Hausbesetzerzeit angeknüpft?

Harald Juch: Nur insofern, dass ich seit dem keine Angst vor der Gestaltung von großen Flächen mehr hatte. Ansonsten war es das Gegenteil. Statt politisch engagierter, unbezahlter Wandbilder entwarf ich jetzt Werbeflächen für Supermärkte und gastronomische Betriebe. Nach meinen Entwürfen sprühten junge Street Art Künstler die Bilder an die Wände. Der Hauptkunde war die Supermarktkette KAISER’S. Es waren rund 40 große Wandbilder, immer mit dem Firmen-Maskottchen, einer lachenden Kaffee-Kanne. Auch für das monatliche Kundenmagazin zeichnete ich jeweils eine Comicseite mit der lachenden Kanne.

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COMIC!: Du hast zwei Jahre lang im Studio von Hahn-Film in Berlin gearbeitet. Hast du dich dabei in die klassische Animation eingefuchst oder was waren deine Aufgabengebiete? 

Harald Juch: Ich hatte bereits einige Male von zu Hause aus für Trickfilmprojekte Landschaften und Charaktere entworfen. Doch erst bei der täglichen Arbeit im Studio stellte ich fest, dass gerade der Großteil der Zeichenarbeit, die Animation in Billiglohnländer wie Vietnam oder Philippinen ausgelagert wurde. Nur die Arbeit an den Drehbüchern und die Entwicklung von Figuren und Hintergründen blieb in Deutschland. So entwarf ich für die Trickfilmserie von Grimms Märchen viele Schlösser, Wälder und Städte, was mir großen Spaß machte.

Einige Zeit später bekam ich dann von den asiatischen Studios meterhohe Papierstapel mit neuen Bildansichten der in Berlin entworfenen  Prototypen von Märchenschlössern und Landschaften. Mit einem elektrischen Radiergummi saß ich vor dem Stapel und musste bei jeder Zeichnung entscheiden, ob sie noch zu retten war oder völlig neu gezeichnet werden musste. Ich bekam damals 6 000 DM im Monat, ein philippinischer Zeichner umgerechnet 150 DM.

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COMIC!: Du illustrierst wie einige andere Kollegen „Die drei ??? Kids“ im Kosmos Verlag.

Harald Juch: Wir sind zurzeit drei Zeichner bei der Kinderbuch-Serie, Kim Schmidt, Jan Saße und ich. Mein 30. Band mit jeweils einem Titelbild und 30 Innenillustrationen ist gerade fertig geworden.

COMIC!: Zeichnet ihr auch für das neue ???Kids-Comicheft, das jetzt seit September 2014 vierteljährlich rauskommt?

Harald Juch: Nein, die Comics werden in einem Studio in Barcelona gezeichnet. Dieses Studio ist schon seit Jahren spezialisiert auf den deutschen Markt, aber die Honorare sind spanisch, das heißt kleiner.

COMIC!: Habt ihr keine Angst dadurch früher oder später eure bisherigen Aufträge für die ???Kids zu verlieren?

Harald Juch: Ach, die Globalisierung gibt es ja schon eine ganze Weile. Mal kann man seine Aufträge gegen Billiglohn-Studios verteidigen, mal nicht. In unserem konkreten Fall ist es noch zu früh, um eine Prognose abzugeben.

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COMIC!: Machst du heute auch Auftragsarbeiten im weniger glatten Stil deiner ersten Berliner Jahre? Und gibt es das große, ganz persönliche Projekt, von dem dich die “Kommerz-Scheiße” ständig abhält?

Harald Juch: Anfragen von neuen Kunden bekomme ich nur für meinen gefälligeren Stil. Das große, ganz persönliche Projekt, von dem mich meine Aufträge abhalten, habe ich zum Glück nicht. Da wäre ich ja verrückt geworden in all den Jahren. Aber es gibt etliche kleinere, alle endlich wieder mit eigenen Inhalten, die mich zunehmend mehr drängen. Ich hoffe, wenigstens eins davon demnächst zu veröffentlichen, selbst wenn es erst mal nur auf meiner Website ist. 

„Sprayen ging gar nicht“: Ex-Hausbesetzer malte Cartoons auf Berliner Fassaden

Von Andreas Austilat im Tagespiegel, Berlin 03.08.2019

(Gekürzte Fassung. Den vollständigen Artikel gibt es hier.)

Das Bild ist für Sekunden nur sichtbar, dann wird es dunkel, fährt die S-Bahn in den Nord-Süd-Tunnel ein, auf ihrer Route zwischen Yorckstraße und Anhalter Bahnhof. Schaut man in diesem letzten Moment aber links aus dem Fenster, taucht es zwischen den Bäumen auf: ein Gemälde, das sich über eine gesamte Wand eines vierstöckigen Mietshauses erstreckt, 20 Meter hoch, 60 Meter breit.

Das Kolossalbild zeigt die Rückseite eines Mannes in Jeans und brauner Lederjacke, die Haare stoßen halblang auf den Kragen. Im linken Arm hält er ein Kind im Wickeltuch, die erhobene Rechte deutet mit der zur Faust geballten Hand in Richtung einer Gruppe Polizisten, die sich mit ihren Schildern zur Kette formiert haben. In ihrem Rücken befindet sich die Silhouette eines Atomkraftwerks.

Die Helme und Uniformen, der Schnitt der Lederjacke, die halblangen Haare, sie weisen zurück in die 80er Jahre, als dieses Bild entstand. Ein Jahrzehnt, dessen Beginn in Berlin geprägt war von erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei.

Harald Juch ist heute 69. Er trägt immer noch Jeans und die Haare vergleichsweise lang, selbst wenn sie weiß und schütter geworden sind. Es braucht nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass der Mann auf der Mauer, würde er sich umdrehen, Juch ziemlich ähnlich sähe. Er selbst bestreitet das, sagt, es müsse nicht einmal ein Mann, könne auch eine Frau sein. Das Kind auf dem Arm freilich, zu dem hat ihn sein Sohn Ulf inspiriert, der damals ein Jahr alt war. Denn Juch ist – nein, nicht der Maler dieses Bildes, dazu ist es zu groß, dazu bedarf es vieler Hände mehr. Aber er hat es 1986 entworfen und wie ein Dirigent die Ausführung gelenkt.

Könnte Juch heute noch einmal anfangen, wahrscheinlich wäre er Sprayer geworden. Damals hätte er das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können. „Sprayen ging gar nicht“, sagt er, „wegen FCKW.“ Das Kürzel steht für Fluorchlorkohlenwasserstoff, ein Stoff, der die Atmosphäre schädigt, in den 1980er Jahren aber als Kältemittel und als Treibgas in vielen Produkten allgegenwärtig war, auch in Sprühdosen.

Er war damals sehr aktiv in der Besetzerszene. Und er malte. Auf Transparente, auf Wände, illustrierte Parolen meist, an die 100 müssen es gewesen sein. Doch der Folkwang-Schüler und Grafikdesigner wollte auch, dass seine Botschaften selbst von jenen beachtet werden, die nicht seiner Meinung sind. Selbst wenn es schnell gehen musste, sollten sie also wenigstens ein bisschen attraktiv sein.

So wurde Juch in den 80er Jahren ein Meister des Roll Paintings, ausgeführt mit der Malerrolle, befestigt an langen Stielen, realisiert von Dachkanten herab oder aus Fenstern heraus. Wie ein Puzzle, das sich schließlich zu einem Bild zusammenfügt. Vier haushohe Fassadenbilder entstanden auf diese Weise. Das Wandbild an der Trasse der S 1 befindet sich auf der Rückseite des Hinterhauses der Bülowstraße 52. Die B 52, wie das Haus damals und manchmal heute noch genannt wird, war eines der frühen besetzten Häuser der 80er Jahre. Was kein Alleinstellungsmerkmal gewesen ist, nicht 1981, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung.

Juch fing als Karikaturist bei der taz an

Juch war kurz vor dem Beginn der Hausbesetzer-Bewegung 1980 aus Essen nach Berlin gekommen. Er wollte bei der „taz“ mitmachen, die Zeitung war das größte alternative Projekt seinerzeit und sollte so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit werden. Juch fing als Karikaturist an und bezog wie alle anderen Mitarbeiter nicht besonders üppige 900 DM im Monat. Er zog in die Schöneberger Frankenstraße. Der nur ein Zimmer breite Seitenflügel hatte als Gebäuderest einst den Krieg überstanden und dürfte damit das wohl schmalste besetzte Haus gewesen sein. Einmal wagte sich CDU-Bausenator Ulrich Rastemborski zu ihnen hinein. „Der war wirklich beeindruckt von der Kreativität, die er da sah“, erinnert sich Juch. In der Frankenstraße lebten damals neben dem Zeichner auch Installationskünstler und ein noch unbekannter Punk, der sich Blixa Bargeld nannte.

Das Haus gehörte zu denen, die schon bald geräumt und abgerissen wurden. Juch wechselte in die Bülowstraße. Und hier entstand das Wandbild, das heute noch existiert.

Der einsame Demonstrant entsprang einem anderen Kontext. Juch entwarf ihn Ende April 1986, unmittelbar nachdem die Havarie des Atommeilers in Tschernobyl bekannt wurde. Eigentlich habe er irgendetwas gegen das Wettrüsten malen wollen, sagt er heute. Doch am Morgen danach beherrschte die Katastrophe die Schlagzeilen. „Wir dachten, jetzt passiert, wovor wir immer gewarnt hatten.“

Niemand vermochte damals zu sagen, welche Folgen die sich ausbreitende Strahlung auch auf Westeuropa haben würde, was nicht eben zur Beruhigung beitrug. Milch wurde weggeschüttet, Pilze verschwanden von der Speisekarte, Fleisch war kontaminiert. Und als für Berlin der erste Regen nach dem Unfall angekündigt wurde, interessierte sich plötzlich jeder für Begriffe wie Becquerel und Millirem, fürchteten sich nicht wenige vor flächendeckender Verseuchung.
Juch zeichnete spontan seinen Demonstranten vor Polizeikette und Atommeiler. Nachts warf er das Bild mit einem einfachen Diaprojektor an die Hauswand, wo Helfer die Umrisse skizzierten. Tagsüber wurden die Konturen dann ausgemalt, unten stand Juch und rief seine Anweisungen. Erleichtert wurde die Arbeit dadurch, dass diesmal tatsächlich ein Gerüst bereitstand. Die Bülowstraße 52 war inzwischen als Wohnprojekt legalisiert, die Sanierung der Außenfassade gerade begonnen worden.

Juch verließ das Haus bereits im Herbst 1986, er ging nach Nicaragua, um dort im Rahmen eines Entwicklungshilfeprojekts aufklärende Comics zu zeichnen. Nach seiner Rückkehr war er sechseinhalb Jahre Ghost-Zeichner für Rötger Feldmann alias Brösel und dessen Werner-Comics. Er malte die „Die Drei ??? für Kids“ und für Kaiser’s Kaffee mehr als 30 Mauerbilder, mit denen er die meist fensterlosen Fassaden der Filialen im Comicstil aufhübschte und nebenbei die lachende Kaffeekanne erfand.

Juch hatte nie Probleme damit, auch kommerziell zu arbeiten, schließlich müsse man von irgendetwas leben. War das also der Abschied von der Politik? „Auf keinen Fall“, widerspricht er, „ich mach’ vielleicht nicht mehr viel in dieser Richtung, aber ab und zu kann ich nicht anders.“ Anlässe sieht er genug, zum Beispiel vor seiner Haustür in Wilmersdorf. Dort entsteht ein gigantischer Wohnblock mit Parkgarage. „Da lacht einen die Gentrifizierung an“, sagt er. Und klingt dabei, als ob er wieder mit der Malerrolle losziehen will.

Der Artikel wurde gekürzt. Der ganze Text steht unter: „Sprayen ging gar nicht“: Ex-Hausbesetzer malte Cartoons auf Berliner Fassaden (tagesspiegel.de)